ERWIN WURM

Erwin Wurm gehört zu jenen Künstlern, die einen weltweit anerkannten autonomen Beitrag zu einer internationalen Tendenz geleistet haben, nämlich zur performativen Wende der Skulptur, bzw. der Skulptur als Handlungsform. Fotografie und Video sind dabei zum Medium der Skulptur und die Skulptur selbst ist zum Gebrauchsgegenstand geworden. Die klassische Skulptur war ein dreidimensionales Objekt auf einem Sockel. Wurm hat zuerst die klassischen Kriterien der Skulptur – Volumen, Gewicht, Statik, Schwerkraft, Form, Masse – neu interpretiert und verarbeitet. Er hat die Menschen und ihre Handlungen mit alltäglichen Gegenständen in ungewöhnlichen Positionen, die sie nur über einen minimalen Zeitraum einnehmen können, fotografisch fixiert. Mit diesen berühmt gewordenen One-Minute-Sculptures hat er das Publikum zum Mitwirkenden bei der Gestaltung der Skulptur gemacht und die Skulptur in ein offenes Handlungsfeld verwandelt. Schließlich hat er dem Publikum anhand verschiedener Gebrauchsanweisungen die Herstellung von Skulpturen im Museumsraum offeriert. Die Partizipation des Publikums ist erforderlich, deren Aktionen bestimmen die Form der Kunst. Wurm animiert auf subversive Weise das Individuum zur Teilnahme am sozialen Handeln. Was heißen soll: aktive Kunst anstatt passivem Konsum. In prekären, von Krisen gezeichneten Zeiten kann ein solcher Turn of culture dazu führen, Energien in einer Gesellschaft freizusetzen, die das Potential haben, Konflikte zu lösen. Wurm hat kontinuierlich bewiesen, dass er auf eine genuine künstlerische Weise – manchmal sublim, oft philosophisch – in Bildern und Objekten eine Antwort auf die Stimmungen

und sozialen Zustände der Zeit zu finden vermag. Wurm bezieht sich in seiner Arbeit, die um einen erweiterten Skulpturenbegriff mit verschiedensten Materialien und Medien kreist, explizit auf die Traditionen der internationalen Avantgarde, wo stets auch Provokation und Risikofreudigkeit sedimentiert sind. In seinen jüngsten Werkgruppen erkennen wir die Rückübertragung der von den Handlungsskulpturen gewonnenen Einsichten auf die statischen Objekte. Dabei gelingen ihm spektakuläre Signaturen wie das Haus auf dem Haus oder das Boot auf dem Dach des Hauses. Wurm hat mit seinen architektonischen Interventionen und großformatigen Skulpturen, besonders im öffentlichen Raum, im Feld zwischen Skulptur und Architektur neue Optionen eröffnet. Was sich bei Wurm oft spielerisch äußert, ist jedoch mehr als eine ästhetische Strategie. Die überdimensionale Polizeikappe von 2010 ist nicht nur ein biografischer Verweis auf den Beruf seines Vaters, der Polizist war, sondern auch eine präzise plastische Übersetzung der Themen Autorität und Überwachung. Die Enge in der kleinbürgerlichen Familie hat er durch sein Aufsehen erregendes „enges Haus“ (Biennale von Venedig, 2011) ebenfalls auf optimale Weise in Skulptur verwandelt. Alle seine Arbeiten verweisen auf ein kritisches, medienanalytisches Denken über den Skulpturenbegriff, indem er die Grenzen zwischen Objekt und Performance, zwischen Architektur und Design, zwischen Plastik und Fotografie, zwischen Künstler und Publikum überschreitet. Daher bieten seine Arbeiten auch eine breite Reflexionsbasis zu soziokulturellen und gesellschaftsrelevanten Fragestellungen.

www.erwinwurm.at